Madeleines Tuch

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Zuckersüss

Paradiesische Süsse breitet sich in Europa deutlich nach dem 16. Jahrhundert aus. Der Grund dafür ist eine sprunghaft ansteigende Zuckerproduktion in der jetzt kolonialisierten Karibik. Die Zuckerrohrpflanzen gedeihen dort weitaus besser als im Mittelmeer oder im Nahen Osten. Der profitable Zuckerhandel verändert die Alltagskultur des barocken Hochadels: Der französische Hof wird zur Innovationswerkstatt des luxuriösen süssen Lebensstils. Nicht nur werden jetzt Tee, Kaffee und Kakao mit Zucker gesüsst, die klassische Speisenfolge wurde um einen abschliessenden Gang erweitert: die Kaffee-Zucker-Gebäck-Mahlzeit, Vier exklusive Süssspeisen entstehen: der Liqueur, die Limonade, das Eis und die Praline. 150 Jahre später gelingt die Züchtung einer süssen Runkelrübe und der süsse Genuss wandert bis auf die Tische hart arbeitender, einfacher Menschen – als billige Energie und paradiesische «Droge». Proust wird diesen Glücksmoment als seligen Erinnerungsprozess verorten: die Madeleines seiner Kindheit, die in der Schweiz Schmelzbrötchen oder Schmelzbrötli genannt werden.

Und mit einem Mal war die Erinnerung da.

Marcel Proust (1871 – 1922)